008 Carl Gustav Carus, Stadt im Mondschein / Ponte Nomentano. Wohl frühe 1840er Jahre.
Carl Gustav Carus 1789 Leipzig – 1869 Dresden
Kunstsalon Gerstenberger 1902 Chemnitz – 1958 ebenda
Richard Friedrich Vetterlein 1871 Altenburg / Thüringen – 1932 Zittau
Öl auf Leinwand. Unsigniert. Verso auf der o. Keilrahmenleiste auf einem Papieretikett von späterer Hand in brauner Tinte bezeichnet "Stadt im Mondschein v.[on] Carus / Vetterlein. Zittau. Sa.[chsen] Görlitzerstr. 11.". In einer Berliner Leiste gerahmt.
Nicht im WVZ Prause, vgl. jedoch motivisch "Rom, St. Peter im Mondschein" ("Italienischer Mondschein"), 1833, (Prause 173), "Blick über Dächer auf gotische Kirche im Mondschein" ("Deutscher Mondschein"), 1833, (Prause 199), und das
...
verschollene Gemälde "Erinnerung an Paris", 1836, (Prause 263).
Bildträger mit einer älteren Unterzeichnung mit der Darstellung des Ponte Nomentano bei Rom.
Provenienz: Nachlass Sammlung Richard Friedrich Vetterlein (1871 – 1932), Zittau.
Wir danken Frau Prof. Marlies Giebe und Herrn Dr. Gerd Spitzer für ihre umfassende Unterstützung.
Carl Gustav Carus – ein neu entdecktes Gemälde
Ein zweites Mal dürfen wir ein maßgebliches Leinwandgemälde von Carl Gustav Carus erstmalig publizieren, das seine Rezeption um einen wichtigen und seltenen Beleg sowohl der malerischen als auch motivischen Entwicklung seines malerisches Spätwerkes erweitern kann.
Carl Gustav Carus überrascht in vorliegendem Gemälde mit einem sehr fließenden Farbauftrag, einer veränderten Farbigkeit der Architektur und einem auffallend tiefen Kontrast des Nachthimmels. Erstmalig modifizierte er die komponierte Stadtsilhouette um die hochgeschossigen Wohnhäuser einer modernen Großstadt.
Der Malträger
Für Carus" malerisches Oeuvre bilden die intensiven restauratorischen Untersuchungen im Vorfeld der Ausstellung "Carl Gustav Carus. Natur und Idee" der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Staatlichen Museen zu Berlin 2009 mit dem zugehörigen Katalog "Wahrnehmung und Konstruktion" eine seltene Belegdichte. In allen Details ordnet sich der vorliegende Bildträger nahtlos in diese Referenzmenge ein: der Keilrahmen mit der markanten Eckverkröpfung, die eng gewebte Leinwand, die zweischichtige "Dresdner Grundierung" – ein erster magerer Bolus unter dem eigentlichen, auch wiederholt nachgewiesenen, leicht roséfarbenen Weißgrund – schließlich das für Carus" typische Frühschwundkrakelee, dass er in dieser späten Malerei aber sehr begrenzen konnte.
Die Malerei
Die Behandlung des Himmels und das Motiv des Vollmondes hinter den aufreißenden Stratuswolken erscheinen kompositorisch nahezu identisch zu "Ruine Eldena mit Hütte im Mondschein", 1819/20 (Prause 63).
Das immer wiederkehrende Detail eines den kalten Mondschein kontrastierenden, in warmem häuslichen Licht erstrahlenden, einzelnen Fensters entwickelte Carus in der beständigen Wiederkehr nahezu zu einem Signé seiner nächtlichen Kompositionen.
Die Verarbeitung nahsichtiger, großer Dachflächen als Kompositionssockel nutzte Carus bereits in "Die Frauenkirche in Dresden", um 1824, oder ebenfalls in "Die Dreikönigskirche im Mondschein", nach 1824, dort in noch in akademisch genauer Linierung.
War der Künstler in seinen frühen malerischen Arbeiten darauf orientiert, die immer detaillierten Vorzeichnungen nur vorsichtig zu lasieren und sukzessive tupfend zu kolorieren, so ist das vorliegende Gemälde ein außergewöhnlicher Beleg für die malerisch freiere Handhabung seines späten Werkes, das gegenüber unserer gewohnten Rezeption in seinem freien, fließenden Pinselduktus und mutiger Kontrastführung zunächst sehr überrascht. Der außergewöhnlich gute Erhaltungszustand verstärkt diese Wahrnehmung.
Insbesondere in den Architekturflächen des Bildvordergrundes wird greifbar, mit welcher Freude sich Carus diesem freieren Malen hingab, nun virtuos die gesamte Klaviatur des malerischen Handwerks beherrschend. In lockerem, sicheren, durchaus breiten Pinsel setzte Carus die Farbflächen alla prima in fließendem Duktus – nur fein nuancierte Korrektive der Lichtführung meint man zu erkennen – formulierte Lichtpunkte, nun ganz frei von der Bildanlage, in selbstbewusster Pastosität.
Wird die Farbigkeit Carus" Gemälde oft bestimmt von rotbraunen Imprimituren bzw. Farbflächen, so beschränkte er dieses Rotbraun hier allein auf den nahsichtigen Dachbereich und entwickelte in der pastosen Malerei der mondscheingetränkten Architektur eine neue Farbigkeit – setzte die Flächen in kühlen Grautönen. Schließlich überrascht der tiefblaue Kontrast des Nachthimmels, den die immer zurückhaltende, dunstige Farbigkeit seines frühen Werkes nicht kennt, und zu dem sich auch im späteren Schaffen wohl nur bei dem "Schloss im Mondschein", nach 1835 (Prause 27) ein Beleg finden lässt.
So wird man die neuentdeckte Arbeit als ein weiteres reizvolles Beispiel für die Kunst von Carl Gustav Carus betrachten dürfen, die einerseits seine Einordnung in die Malerei der Romantik bestätigt, und andererseits sein besonderes Gespür für neuere Entwicklungen der Zeit erweist, die einer mehr malerischen Auffassung zugewandt waren.
Als Carus Ende der 1830er Jahre der hochgeschätzten – und für "moderner" erachteten Düsseldorfer Schule in Dresden zum Durchbruch verhalf, ist er ebenfalls diesen Intentionen gefolgt.
"Schon ist ein anderer Himmel über Paris als über Deutschland!"
Im Jahr 1835 besuchte Carus vom 29. August bis 17. September 1835 für 20 Tage Paris.
Die "Weltstadt" beeindruckte den Gelehrten in tiefster Weise. Während in seinen Reiseberichten die Erinnerungen seines 14tägigen Aufenthaltes 1828 in Rom bereits 140 Seiten umfassten, so füllten die Eindrücke der Seine-Metropole schließlich über 360 Seiten.
Welchen Kontrast wird Paris mit seinem "900.000fachen Menschenleben" bereits zu Rom gebildet haben, das im frühen 19. Jh. 150.000 Einwohner umfasste, vollends natürlich zu der 80.000 Einwohner zählenden sächsischen Residenz.
Von den Pariser Sammlungen ist in seinem Bericht ausführlich zu lesen, von den vielen gesellschaftlichen Anlässen –er traf Alexander von Humboldt–, in aller Hinwendung zu Paris" Architektur, doch immer wieder prägte auch das atmosphärische Naturerleben des Pariser Himmels seinen Rückblick.
"Schon ist ein anderer Himmel über Paris als über Deutschland!" begann er die Schilderung seiner Eindrücke mit einem breiten Exkurs zu klimatischen und geologischen Eigenarten Paris". In gleich vier Kapiteln des Buches widmete er Abschnitte dem besonderen Eindruck des Abendhimmels.
"Ich hatte bisher so viel über Paris gelesen und gehört, aber die Schönheit seines Himmels […] hatte mir noch niemand erwähnt […]. Es ist eine eigne Stimmung, in welche hier ein Gang längs der Seine an einem schönen Abend des wachsenden Mondes uns versetzt." (S. 132 Kapitel "Abendspaziergang in Paris")
Dabei scheint der Satz "[…] so wirkte doch auf tiefere und mehr harmonische Weise der im dunkelsten Blau des Himmels schwimmende […] Mond" (S. 138) in ganz eigener Weise zu dem außergewöhnlichen Himmel des vorliegenden Gemäldes zu passen.
Am 10. September besuchte Carus den Maler Jean Jacques Champin (1796–1860), aus dessen Atelier in der sechsten Etage der Rue Neuve St. Roch sich der Blick über die Dächer der Stadt bis hin zur Vendôme-Säule und dem Invalidendom eröffnete.
Beeindruckt äußerte sich Carus zu der Höhe des mehr als sechsgeschossigen Wohnhauses:
"Uebrigens ging es mir sonderbar, als ich die Treppen zu Rampin hinaufstieg; denn als wir bis zum vierten Gestock gekommen waren machte ich Miene einzutreten , aber David sagte freundlich: "non! au sixième!" und wirklich fand ich den Künstler im sechsten Stockwerke sehr anständig und geräumig eingerichtet, ja das Haus schien auch noch höher oben bewohnt." (Paris und die Rheingegenden, Bd. II, S. 53)
Der Aquarellmaler und Lithograf Champin war Spezialist für alte und neue Stadtansichten von Paris, die in druckgrafischen Folge weite Verbreitung fanden. Carus wollte von diesem "ein paar genaue Skizzen" von einigen Pariser Örtlichkeiten erlangen und sah bei dem Besuch ein paar größere Blätter von Champin, in denen alte Ansichten von Paris aus dem 15. Jahrhundert ebensolchen Blicken aus der Gegenwart gegenübergestellt waren. Das muss Carus sehr interessiert haben. Vor allem jedoch beeindruckte ihn der Blick aus den Atelierfenstern über die Dächer der Stadt, welcher einerseits der ganz speziellen Profession des französischen Künstlers entgegenkam und andererseits den individuellen künstlerischen Neigungen des Besuchers aus Dresden in ganz eigener Weise entsprach.
In Carus Erinnerungen zu dieser Mondnacht meint man Elemente der Bildidee des vorliegenden Gemäldes wiederzufinden:
"Dabei ergab sich nun überdieß eine ganz eigenthümliche Aussicht aus den Fenstern des Malers. Die gegenüber gelegenen Häuser nämlich waren niedriger und so sah man über Dächer, Dachfenster und eine Menge von bald steinernen bald eisernen wunderlichen Essen die Säule vom Place Vendôme aufragen, und in der Ferne die Kuppel von der Kirche des Invalides. […]
Ich konnte mich lange von dem Fenster nicht trennen ; ich dachte wie wundersam geisterhaft das aussehen müßte, wenn in einer Mondnacht die Wolken so unter dem abnehmenden Monde und über der Säule dahin zögen, während unten nebelhafter Rauch um die Dächer und Essen sich spänne, und die Kuppel der Invaliden in der Ferne wie das Grabesgewölbe des Helden aufstiege ! — Es könnte sich das einmal zu einem Bilde nach meiner Art gestalten und eine freilich flüchtigste Skizze dieser Scene dem Taschenbuch einzuverleiben wurde nicht verabsäumt." (Paris und die Rheingegenden, Bd. II, S. 53)
Zurück in Dresden schrieb Carus im Januar 1836 an seinen Freund Johann Gottlob Regis:
"Was das Pariser Tagebuch betrifft, so ist's wieder ein Stück vorgerückt und mein Bild mit der Vendôme-Säule ist doch trotz der kurzen Tage beendigt. Komm und sieh!" (Brief Nr. 207, Carus an Regis am 22.1.1836)
Auch 30 Jahre später bewegten Carus diese Erinnerungen und in der Lebensbeschreibung reflektierte er die "künstlerischen Erinnerungen" des nämlichen Jahres 1836 nochmals ausführlich:
"Im Juli zogen wir von Pillnitz wieder zur Stadt und wenn dies dem jungen Paare der Verlobten einerseits erfreulich war, so durfte auch ich damit zufrieden sein, da es mir zunächst Gelegenheit gab, nun auch einige künstlerische Erinnerungen an die letzte Reise, die mich schon im Frühjahr abwechselnd beschäftigt hatten, mit Sorgfalt zu vollenden.
Das eine Bild war das der alten Wernerikirche von Bacharach [Prause 200], welches noch jetzt bei mir den Freunden[sic!] einen Schatten der Schönheit der Rheinumgebung zurückruft, das andere gab eine seltsam phantastische Erinnerung an Paris, von der ich jetzt fast beklage, daß ein begüterter Russe mir einst keine Ruhe ließ, bis ich sie ihm überlassen. Als ich nämlich in jener Weltstadt einstmals einen Künstler aufsuchte, welcher in der Nähe des Vendômeplatzes die 6. Etage bewohnte, überraschte es mich eigen, über einem Meer von Dächern, Schornsteinen, Kuppeln und Türmen die Vendômesäule mit der Bildsäule Napoleons geisterhaft aufragen zu sehen. Der Eindruck blieb mir lange in der Seele und wandelte sich endlich in ein Bild um, welches diese Szene im bleichen Mondlicht dem Beschauer vergegenwärtigte. Dieses Bild, sowie jenes von Bacharach durfte ich wohl unter meine besten Arbeiten zählen." (Carl Gustav Carus, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 409f)
Die gemeinsame Entstehung der beiden Gemälde "Ausblick über Paris" und "Ansicht von Bacharach am Rhein" dokumentiert, wie eng Carus die Motive dieser Reise verknüpft.
Nachdem der Künstler seit den 1820er Jahren in seinen gemalten Bildkompositionen immer wieder die mittelalterliche, "altdeutsche" Architektur in den Blick genommen hatte und 1833 in zwei aufeinander bezogenen Pendants den "deutschen" und den "italienischen" Mondschein über der Stadtlandschaft darzustellen suchte, sah er 1836 auf der Frankreichreise Bacharach am Rhein, das ihn überaus beeindruckte. In Paris jedoch erlebte er anschließend eine moderne Großstadt, deren "Meer von Dächern, Schornsteinen, Kuppeln und Türmen" ihn geradezu überwältigte.
Florenz
Die schwere Erkrankung der Nichte des sächsischen Königs Friedrich August II. führte Carus nach 13 Jahren 1841 ein zweites Mal nach Florenz, dass 1828 mit zwei Aufenthalten, über einen Monat, die längste Station seiner Italienreise bildete.
Die während dieses zweiten Besuchs entstandenen beiden Florentiner Ansichten (Prause 185, 186, 187) sind die engste malerische Referenz und dem vorliegenden Gemälde so nah – zunächst kompositorisch in einer neuen, ungewöhnlich tiefen Staffelung der städtischen Architektur, auch diese angeführt von nahsichtigen, großen, die ganze Bildbreite einnehmenden Dachflächen.
Und schließlich ist, noch lesbarer, deren malerische Behandlung, das rotbraune Kolorit und die nur noch in kurzen, freien Pinselschlägen abstrahierend angedeutete Struktur der Dachpfannen, selbst die Lichtkämme entlang der Firstpfannen, die Carus aus seiner malerischen Bibliothek mühelos sowohl in Tages- als auch Nachtszenerie integriert, identisch zum vorliegenden Werk.
Aber selbst Florenz" Silhouette konnte nur Impulsgeber für Carus" Bildideen sein – er ergänzt auch die Komposition dieser beiden Bozetti mit Versatzelementen zu Idealtypologien. Vergeblich sucht man in Carus" Sichtachsen die dargestellten überhöhten "Wohntürme" der beiden Motive in der Topografie von Florenz.
Sind die Eindrücke der italienischen Architektur, der Wohntürme und Dachloggien, z.B. des Palazzo Davanzati, hier, im Frühjahr 1841, Ideengeber für die lesbare Zäsur in Carus" Architektur-Kompositionen?
Carus" eng national geprägtes Ideal der altdeutschen Stadtkulisse brach auf. Die oft bis zur Implausiblität gesteigerte Zahl gotischer Spitztürme wandelte sich – Carus zeichnete im vorliegenden Gemälde ein modernes Stadtbild, setzte für die meist mittig kulminierende Rhythmisierung seiner Silhouetten nun profane turmartige Elemente ein.
"Paris und die Rheingegenden" – eine Motivsuche
Der städtebauliche Eindruck der europäischen Metropole Paris kann Carus" sehr national orientiertes mittelalterliches Stadt-Idealbild nicht unbeeinflusst gelassen haben.
Der Giebel des mittelalterlichen Steildaches mit hohem Schornstein im Bildvordergrund und dessen markantes Fachwerk, dessen Ausstrebungen Carus bis in die Firstspitze führte, sind als französisches Zitat lesbar. Auch heute, nach Georges-Eugène Haussmanns Stadtumbau, sind etwa in der Rue Francois Miron, in Sichtweite der Notre-Dame, noch mittelalterliche Fachwerkhäuser in Paris erhalten.
Deutlicher noch zeichnen die hohen Wohnhäuser im Bildhintergrund die Veränderung Carus" städtischen Idealtypus hin zu einer europäischeren Silhouette.
Die Eckzinnen und doppelten Fensterachsen des zentralen Kirchturmes mögen als Reminiszenz an St. Peter in Bacharach gelesen werden, wo der Künstler auf seiner Reise nach Paris Station machte.
Im linken Bildhintergrund hinterließ uns Carus in der prägnanten Verfremdung des zweiten Kirchturmes eine verschlüsselte Signatur. Unmittelbare Referenz dazu ist das 1824 entstandene Gemälde "Kaiserpfalz von Eger" (Prause 295), in dem Carus die örtliche Situation naturgetreu wiedergab, aber bereits in identischer Weise wie im vorliegenden Gemälde die Ecktürme des im Hintergrund sichtbaren Kirchturmes St. Nikolaus subsummierend in der Art von Gauben mittig über die Fassaden setzte – eine Erfindung ohne eigentliche baugeschichtliche Entsprechung – ein "Carus-Turm".
Auch in der unter dem Eindruck seiner England-Reise um 1845 entstandenen "Stadt in der Abenddämmerung" (Prause 68) findet sich dieses Detail.
Im Jahr 1833 waren mit den Gemälden "Deutscher Mondschein" (Prause 199) und "Italienischer Mondschein" (Prause 173) zwei kleine Werke entstanden, in welchen sich Carus explizit mit den atmosphärischen Erscheinungen des Mondlichts über der nächtlichen Silhouette einer Stadt auseinandersetzte. Der Unterschied zwischen dem italienischen und dem deutschen Mondschein wurde im Bild allerdings weniger durch unterschiedliche Himmelserscheinungen, als vielmehr durch bestimmte Architekturelemente gekennzeichnet, die wie die ferne Kuppel von St. Peter eine Wiedererkennbarkeit gewährleisten. In dem vorliegenden, bisher unbekannten Bildbeispiel scheint Carus weitere Reiseeindrücke und optische Erfahrungen hinzugefügt zu haben, die ihn beim Blick über nächtliche Dachlandschaften als Maler stets besonders faszinierten. Im Abschnitt "Mondscheinbilder" seines zehnten Briefes über Landschaftsmalerei notierte der Künstler im Hinblick auf die seelischen Wirkungen des Mondlichts: "Denn wie der die Erde umkreisende Mond den Pulsschlag der Gewässer der Erde [...] bestimmt, so wirkt die Erscheinung des Mondlichts mit sehr entschiedener Sicherheit auf den Herzschlag unseres Seelenlebens, auf das Gemüt! – und was klingt nicht alles in den Saiten dieses Gemütslebens wieder, wenn die Mondesstrahlen in ihrer mannigfaltigen Schönheit wie Windeshauch über Aeolsharfen streifend, sie berühren!" (Carl Gustav Carus: Briefe und Aufsätze zur Landschaftsmalerei, S. 113).
Ponte Nomentano
Welche Faszination hätte Carus empfunden, dass nach fast zwei Jahrhunderten die Entdeckung einer älteren Unterzeichnung durch die heutigen Möglichkeiten der Infrarot-Bildgebung und der kunsthistorische Glücksfall der Überlieferung einer motivgleichen Zeichnung Carus" "Ponte Nomentano" vom 29. Mai 1828 im Kupferstichkabinett Dresden den letzten Beleg zu Carus" Autorenschaft bilden können?
Die vorliegende frühere Unterzeichnung der Ponte Nomentano stimmt in allen Details, auch der Uferzone des Teverone (Anio) und der umliegenden Hügelketten, mit Carus" Bleistiftskizze (Skizzenbuchblatt) überein.
Versetzen uns bereits der Teverone, der die Kaskaden von Tivoli bildet, und die Szenerien der beiden in der weiten Landschaft im Norden Roms stehenden imposanten Wehrbrücken, die seit Piranesi vielzählige Künstler begeistert haben, die 1829 zerstörte Ponte Salario und die heute erhaltene Ponte Nomentano, in das romantische Italien des 19. Jh., so lässt uns Carus" Reisebericht schließlich taggenau an der Bildentstehung teilhaben:
"Roma, den 29. Mai
Nachmittags fuhren wir zur Villa Albani, in der Nähe der Porta Pia gegen Tivoli gelegen [...]
An der Via nomentana, ebenfalls unfern der Porta pia, liegt eine Kirche S. Agnese [...]
Weiter auf der Via nomentana hinaus kommt man zum Anio (Teverone), über welchen eine alte überwölbte, einst von Totila zerstörte Brücke (Ponte nomentano) führ. Die Gegend hier ist höchst eigenthümlich! Die weite Campagna mit mannichfaltigen Einsenkungen und Erhebungen, das gekrümmte Flußbett, die herrlichen Gebirge von Tivoli, zerstreute alte Grabmäler, weidende Heerden von Pferden – Alles trägt bei, einen besondern Eindruck zu hinterlassen." (Carl Gustav Carus, Reise durch Deutschland, Italien und die Schweitz im Jahre 1828, S. 353–360)
Ruhte die angearbeitete Leinwand seit Carus" Italienreise 1828 in seinem Atelier oder war ihm sein dienstlicher Besuch in Florenz 1841 Impetus, zu der römische Brücke, diesem romantischen Stellvertretermotiv, eine Bildanlage zu beginnen?
Lit.:
Carus, Carl Gustav: Neun Briefe über Landschaftmalerei, geschrieben in den Jahren 1815–1824. Leipzig 1831.
Carl Gustav Carus: Reise durch Deutschland, Italien und die Schweitz im Jahre 1828. Leipzig 1835.
Carl Gustav Carus: Paris und die Rheingegenden – Tagebuch einer Reise im Jahre 1835 – Erster und Zweiter Theil. Leipzig 1836.
Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Neu hrsg. von Elmar Jansen. Erster und zweiter Band. Weimar 1969.
Gertrud Heider (Hrsg.): Carl Gustav Carus: Briefe und Aufsätze zur Landschaftsmalerei. Mit einem Nachwort von Gertrud Heider. Leipzig/Weimar 1982.
Carl Gustav Carus – Wahrnehmung und Konstruktion. Essayband zum interdisziplinären Kolloquium der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. München 2009.
Carl Gustav Carus – Natur und Idee. Katalogband zur Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Staatlichen Museen zu Berlin. München 2009.
Abb.: Carl Gustav Carus "Ponte Nomentano", 1828, Bleistiftzeichnung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, InvNr. C 1963–86.
© Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank.
> Mehr lesen
Bildträger auf MDF-Platte kaschiert, die Spannkante mit kleineren Läsionen. Malschicht im Bereich der Architektur mit wenigen kleinen Retuschen unter dem Firnis, zum Teil leicht farbfalsch. An der äußersten Bildkante u.Mi. weitere kleine Retuschen. Leichtes Frühschwundkrakelee u.li., sehr feines, netzförmiges Alterskrakelee im u. Bildbereich, im Gesamteindruck unscheinbar.
< Weniger lesen
42 x 32 cm, Ra. 50 x 40,5 cm.